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Wie Theorie aus Daten entsteht

Gerhard Kleining

Die Theorieentwicklung innerhalb der qualitativ-heuristischen Methodologie ist ein dialektischer Prozess. Sie ist weder induktiv oder deduktiv noch abduktiv, obgleich sie von diesen Verfahrensweisen profitieren kann, die aber, für sich genommen, in Reichweite und Wirkung als zu eng angesehen werden.

Die entdeckende Forschung beginnt immer mit der Erstellung von Daten, nicht mit einer Hypothese über mögliche Ergebnisse, sei sie selbst entwickelt oder aus anderen Quellen stammend. Die Forschungsperson hat natürlich bestimmte Ideen über einen Forschungsgegenstand, mehr oder weniger berechtigte, aber die heuristischen Regeln suchen diese Annahmen oder Vermutungen – die Vorurteile sein oder sie enthalten können – nach Kräften zu reduzieren und die Forschungsperson zur Offenheit gegenüber anderen Ansätzen anzuhalten, als diejenigen, die zu Beginn der Forschung plausibelsten erscheinen (Regel 1 und 2 der Methodologie über Offenheit der Forschungsperson und des Forschungsgegenstandes) (Kleining, 1982/2002, Kleining & Witt 2000).

Die Daten sollten stark variiert werden und möglichstverschieden von einander sein, sich aber immer auf den Forschungsgegenstand beziehen (Regel 3 über maximale strukturelle Variation der Perspektiven). Sie werden bei der Analyse einem Vergleich mit einander unterzogen, um, schrittweise, ihre Gemeinsamkeiten festzustellen. Gemeinsamkeiten sind das Gegenteil von Unterschieden, oder was Daten von einander trennt. Jedes Forschungsdatum kann natürlich als verschieden von jedem anderen angesehen werden. Aber weil alle Daten auf die eine oder andere Weise Aspekte verschiedene Aspekte desselben Forschungsgegenstandes zeigen - das war ja die Absicht der Datensammlung – haben sie auch Gemeinsamkeiten. Die „vergleichende Methode“, deren Erfindung die Linguistik als wissenschaftliches Fach zu Beginn des neunzehnten. Jahrhunderts begründete, wird damit als Versuch definiert, die Gemeinsamkeiten innerhalb der Verschiedenheiten von Daten zu finden und nicht deren Unterschiede zu beschreiben (Regel 4 über die Analyse auf Gemeinsamkeiten).

Der Prozess, Gemeinsamkeiten zu suchen, sie aufzufinden und zu beschreiben ist der Prozess der Abstraktion. Konkret und abstrakt sind relative Bezeichnungen. Der Analyseprozess schreitet von mehr konkreten Daten zu mehr abstakten Bezügen voran. Diese können als die Struktur oder als das Muster der Daten bezeichnet werden. Die Fortsetzung des Prozesses wendet die Struktur wieder auf die Daten zurück, das Abstrakte auf die einzelnen Konkretheiten, was dann ein besseres Verständnis oder eine tiefere Einsicht in ihre Besonderheiten ermöglicht. Symbolisch:

C => A => C2

besagend, dass das Konkrete C in die Abstraktion A übergeht und sich zum Konkreten zurück bezieht, das dadurch zu einem etwas anderen Konkreten wird als das Konkrete zu Beginn des Prozesses, nämlich zu einem durch die Struktur aufgeklärten Konkreten (C2).

Die Abfolge kann sich fortsetzen und weitere bisher nicht berücksichtigte konkrete Daten einbeziehen, die durch die Analyse zu einer höheren Stufe der Abstraktion und, zurück gewendet, zu einem breiteren Gültigkeitsbereich führt. Die beständige Erweiterung der Daten und ihre Subsumierung unter eine gemeinsame, sie alle umfassende Struktur lässt allmählich Theorie entstehen. Diese kann definiert werden als Konzept, das aus einer breiten Datenbasis durch Abstraktion entsteht und sie reflektiert. Die Theorie, die sich in einem beständigen dialektischen Prozess bildet, validiert sich selbst, indem sie die Daten, die in sie eingehen, ihrerseits bestätigt. Sie ist jedoch nur gültig innerhalb des Datenbereichs, der zu ihrer Konstruktion genutzt wurde. Es gibt in den Humanwissenschaften keine universellen Theorien, weil alle menschlichen Beziehungen sozial und sich verändern. Sie können jedoch für eine bestimmte gesellschaftliche, zeitliche und räumliche Situation gültig sein.

Die möglicherweise abschließende Phase der Theorieentwicklung besteht im Vergleich der Struktur der Theorie mit ähnlichen Strukturen in ihrem Umfeld, das man Diskurs, Hintergrund oder Ideologie nennen kann. Dies ist die Phase immanenter Kritik. Eine Theorie kann sich als autoritär erweisen oder individualistisch oder konservativ oder utopisch oder religiös etc. und diese Reflexion kann auf einen bestimmten Charakter der Theorie aufmerksam machen oder auch zu dem Schluss führen, dass ihre Entwicklung noch nicht bis zum Ende gelangt ist.

 

Literatur

Kleining, Gerhard (1982, 2001) Umriss zu einer Methodologie qualitativer Sozialforschung in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34, 224-253.

Kleining, Gerhard &  Witt, Harald (2000).  Qualitativ-heuristische Forschung als Entdeckungsmethodologie für Psychologie  und Sozialwissenschaften: Die Wiederentdeckung der Methode der Introspektion als Beispiel. Forum Qualitaitve Sozialforschung, 1 (1), http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00kleiningwitt-d.htm# (15.05.00). [19 Absätze].

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